Leseprobe
Beziehungsgeschichten
“Wie das Leben tatsächlich ist, haben wir alle nicht gelernt” © Eckhard Pawlowski
Wer meint, alles von den Menschen zu wissen,
wird auch den Stein wiederfinden,
den er gestern am Strand verloren hat. © Eckhard Pawlowski
Einleitung
Wenn Sie dieses Buch durchblättern, werden Sie feststellen, dass einige Kapitel Ihr Interesse mehr wecken als andere. Ich verstehe, wenn die vor Ihnen liegenden vielen Seiten Sie zunächst etwas erschrecken. "Wann soll ich das alles lesen?", fragen Sie sich vielleicht, und dann eventuell schwindet mit dem Interesse, auch die Lust. Und da die Lust etwas mit unterschiedlichsten Empfindungen und Gefühlen zu tun hat, macht es Sinn, diese in jeglicher Form mit einzubeziehen, sonst geht die Lust, in Form von „Luschtverluscht“ wie die Schweizer sagen, schnell verloren.
Wenn Sie jedoch durch das Lesen des ersten Kapitels „Unter jedem Dach, wohnt ein Ach“ einen roten Faden gefunden haben, können Sie sich problemlos „häppchenweise“ einzelne Kapitel auswählen, da sie inhaltlich nicht voneinander abhängig und nicht miteinander verzahnt sind.
Warum „Beziehungsgeschichten“? In diesem Buch geht es darum, was wir in Beziehungen wirklich fühlen und dass wir uns nicht auf Sachen einlassen sollten, zu denen unser Gefühl eher nein, als ja sagt. Da ich, wie es Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner in seinem Vorwort beschreibt, eigentlich nur Geschichten, von und über Beziehungen erzähle, lag der Titel „Beziehungsgeschichten“ einfach nahe.
Ein Freund fragte mich kritisch, ob ich denn meine, dass Menschen tatsächlich etwas über das mit dem Nicht-Wahrhaben-Wollen und Verdrängen der Wahrheit lesen wollen. Mit dieser kritischen Anmerkung hat er es auf den Punkt gebracht. Und darüber hinaus hat er meine Gründe noch verstärkt, warum ich das unbändige Bedürfnis hatte, vieles von dem aufzuschreiben, was ich erst nach vielen Jahren unbewussten Verdrängens als Realität in meiner eigenen Lebensgeschichte fand, nachdem ich den Mut hatte, mal richtig hinzuschauen.
Ich weiß schon, dass man nur ungern etwas von dem Verdrängen der Wahrheit und dem dazugehörenden Selbstbetrug hören mag. Alle sind ja irgendwie betroffen. Es ist unangenehm, wenn wir uns wegen der vielen kleinen und großen Lügen in unserem Leben an die eigene Nase fassen müssen. Für diese Klarheit in der Kritik meines Freundes kann ich mich nur bedanken.
Unter jedem Dach wohnt ein Ach
Dieses Buch zeigt, basierend auf gelebter Erfahrung, wie nahe wir alle am Rande gestörter Beziehungen leben und wie schnell diese heile, schöngeschunkelte Musikantenstadl-Welt wie ein Kartenhaus zusammenfallen kann, wenn ein Schlaganfall durch die notwendige anschließende Pflege uns wieder zurückführt zu jener intimen Nähe, die den meisten Menschen u. a. nach vielen Ehejahren verlorengegangen ist.
Es zeigt die oft banal scheinenden, unbewussten und verdrängten Hintergründe für Beziehungsstörungen auf, die den meisten Menschen tatsächlich nicht bewusst sind und liefert eine Erklärung für die daraus resultierenden, vermeintlich unerklärlichen, Alltagsprobleme, die uns Menschen begleiten und die dafür sorgen, dass wir körperliche und seelische Unruhe sowie Einschlafstörungen durch Baldrianpräparate und sonstige Beruhigungsmittel meinen, behandeln zu müssen. Die meisten Menschen haben nie gelernt, dass Unruhe, Einschlaf- und Durchschlafstörungen seit Urzeiten natürliche Schutzfunktionen unseres Körpers sind, die uns darauf aufmerksam machen, dass irgendwas nicht in Ordnung ist. Aber statt nach der Ursache und den Auslösern, wie z. B. Konflikte in unserem sozialen Umfeld zu suchen, halten sie sich diesbezüglich nach der Drei-Affen-Methode Augen, Mund und Ohren zu. Es kann ja nicht sein, was nicht sein darf! Und das so lange, bis unsere Seele die Faxen dicke hat und über den Umweg von körperlichen Schmerzen Alarm schlägt, weil wir nur darauf hören.
Aber die wenigsten Ärzte haben heute die Zeit, mal genauer zu schauen, wo es wirklich drückt und behandeln nur das Offensichtliche, das tatsächlich weh tut, was wiederum den meisten Patienten nur recht ist. Die vernünftigerweise verordnete Ruhe hilft erstmal auch der Seele und ihrem unbewussten Kummer. Aber eine Seele vergisst keine ungelösten Konflikte und wird wieder unruhig, wenn der Mensch in das tägliche Hamsterrad zurückkehrt.
Mein Name ist Eckhard Pawlowski. Ich bin 1954 geboren und habe als Fachkrankenpfleger für Psychiatrie das Glück gehabt, 33 Jahre hauptsächlich soziotherapeutisch und auch ein wenig ganzheitlich arbeiten zu können – auf meine Art und Weise.
Bei meiner Arbeit in der Gerontopsychiatrischen Ambulanz ist mir besonders das Schweigen der alten Männer aufgefallen, die durch das Grauen ihrer traumatischen Erlebnisse während des 2. Weltkriegs und der anschließenden Gefangenschaft regelrecht „gestillt“ worden waren. Sie haben als Kind gelernt, dass ein Mann stark sein muss und keine Gefühle zeigen darf, auch nicht, wenn es ihn fast zerreißt. Deshalb konnten sie nicht über das Erlebte reden, weil sie Angst davor hatten, von ihren Gefühlen überwältigt zu werden.
Ehefrauen, wie auch Kinder litten unendlich unter dem Schweigen und den oft gewalttätigen Wutausbrüchen der zurückgekehrten Familienväter, wenn sie mit hilflosen Fragen versuchten herauszufinden, warum er nicht über das reden konnte, was ihn so zu bedrücken schien. Besonders viele Jungen wurden von diesen „männlichen“ Verhaltensweisen ihrer Väter geprägt und verhalten sich heute genauso negativ gegenüber ihren eigenen Gefühlen, obwohl sie alles anders machen wollten, als der „Alte“. Sie reden heute auch nur, wenn sie gefragt werden oder wenn sie noch frisch verliebt sind und ihre Flugzeuge im Bauch den Flugverkehr, trotz Alltagsstress in jeder Beziehung, noch nicht eingestellt haben.
Diese erlernte Sprachlosigkeit, das Verschweigen der Wahrheit, der heimliche Rückzug aus vermeintlich intakten Beziehungen und das Leugnen der Realität, prägt viele Menschen bis heute und macht sie in Bezug auf das, was sie wirklich fühlen, ebenso sprachlos und still, wie damals ihre Väter und Mütter.
Dieses nach außen hin, hilflose Aufrechterhalten einer vermeintlichen intakten und heilen Welt wurde durch den Konsum in den 50/60iger Wirtschaftswunderjahren kaschiert und prägt bis heute das Verhalten aller „Nachkriegskinder“, die nicht gelernt haben, über ihre Gefühle zu reden. Es scheint einfacher zu sein, die eigene Unzufriedenheit kurzfristig über den Weg in ein Schuhgeschäft oder den Kauf eines neuen Smartphones zu verdrängen, als mit dem Partner darüber zu reden, was die Beziehung zurzeit eigentlich belastet oder sogar unerträglich macht.
Halten Sie beim Einkaufen im Supermarkt oder beim Einkaufsbummel in der Stadt mal kurz inne und beobachten Sie einfach mal, was in den Gesichtern der Menschen zu sehen ist. Die wenigsten wirken fröhlich, locker und entspannt, viele schauen sogar verbittert, traurig oder gleichgültig. Wenn sie das fühlen, was sie ausstrahlen, dann möchte man mit ihnen nicht tauschen.
Nach außen hin geben sich viele Familien sehr taff, und ihre Beziehungsstrukturen wirken entsprechend unerschütterlich. Wenn man aber mit den Familienmitgliedern einzeln „ohne Aufpasser“ spricht, sieht das Geflecht der Beziehungen und den dazugehörenden Gefühlen nicht selten ganz anders aus.
Aus einem Sammelsurium von privaten und beruflich erlebten und gelebten Beziehungen, Geschichten und Fallbeispielen habe ich dieses Buch geschrieben, das ich unter anderem, nicht nur den Millionen Pflegenden und Pflegebedürftigen widme, obwohl es phasenweise etwas „Pflegelastig“ wirkt, sondern allen Menschen, die den Mut haben, ehrlich über ihre Beziehungen nachzudenken. Denn gestörte Beziehungen fallen oft erst auf, wenn man sich bei Begegnungen emotional so nahe kommt, dass man ausweichen möchte, obwohl man sein Gegenüber mag. Das erleben viele Menschen erst, wenn ihr ritualisierter Alltag dadurch gestört wird, dass sie selbst, ihr Partner, ihr Kind oder ein Elternteil plötzlich ins Krankenhaus müssen.
Von Ruth Charlotte Cohn, der Begründerin der Themenzentrierten Interaktion stammt der Satz:
„Sage nie Ja, wenn du Nein meinst.“
Da wir schon in der Kindheit die Erfahrung machen, dass wir mehr Zuwendung bekommen, wenn wir Ja sagen, obwohl wir Nein meinen, scheinen wir im Laufe des Lebens das Nein-Sagen gegenüber Menschen, die uns ganz wichtig sind, komplett zu verlernen. Denn auch als Erwachsener haben wir noch Angst, dass uns „dann keiner mehr lieb hat."
Die bei vielen Menschen nach Jahrzehnten gerne als Midlife-Crisis belächelte, oft in Depressionen übergehende Nachdenklichkeit bezüglich ihres bisherigen Lebens wird stark unterschätzt, obwohl sie oft ganz tief aus unserer Seele kommt. Unverarbeitete Traumata, physischer wie auch psychischer Natur, erlebte Gewalt, Missbrauch im Kindesalter und von den Erwachsenen nicht ernst genommene Ängste in der Kindheit können durch einen Geruch, ein Geräusch, Gesehenes oder einem vergleichbaren Ereignis aus der Vergangenheit, ein bisher verdrängtes und verschwiegenes Beben der Seele auslösen. Wie ein terroristischer Schläfer mit einem posthypnotischen Auftrag, der nur auf den Code wartet, um das bisher durch Schweigen in Schach gehaltene Beben in unserem Bewusstsein ausbrechen zu lassen. Auch die ganz kleinen, durch unseren lebenslangen Selbstbetrug und Alltagsstress verdrängten traumatischen Erlebnisse und Erschütterungen, werden plötzlich freigesetzt und können ganz leise einen Tsunami in uns auslösen, den wir erst wahrnehmen und erleben, wenn er uns überrollt hat.
Unser anerzogenes schlechtes Gewissen begleitet uns wie ein Marionettenspieler, der durch die Fäden dafür sorgt, dass wir seinen Standpunkt und seine Sichtweise nicht verlassen können. Wir scheinen durch das ewige laute Ja-Sagen, obwohl wir Nein meinen, den Klang und die Wertigkeit unserer eigenen Stimme beim Nein-Sagen zu vergessen. Damit vergessen wir uns selbst, unser eigenes Leben und leben gezwungenermaßen das Leben der anderen. Aber das begreifen wir erst nach dem Tsunami.
Wenn Sie beim Lesen dieses Kapitels denken, „was habe ich mit Beziehungen und diesem Psychokram zu tun, das betrifft mich nicht, oder warum soll ich mir über „Pflege“ Gedanken machen? Es gibt niemanden in meiner Familie, der pflegebedürftig ist, da kann ich nur sagen: vermeintlich noch nicht. Denn das mit dem Psychokram und den dadurch gestörten Beziehungen fängt doch schon an, wenn „wir“ ungewollt schwanger werden. Und in Anbetracht dessen, dass laut Wikipedia jede 2. Schwangerschaft ungeplant und sich bei den unter 18-20-Jährigen sogar zu 90 % aus „Versehen“ ergibt, sind die „Ungewollten“ in der Menschheitsgeschichte wohl in der Mehrzahl. Das ist bis heute ein Tabuthema und eine Art nicht enden wollende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für viele Psychotherapeuten. Aber darüber redet keiner in der Öffentlichkeit.
„Früher, als die Welt noch in Ordnung war“ und es offiziell keine unehelichen Kinder geben durfte oder gab, musste dann ganz schnell geheiratet werden, wenn das heimliche Treppenspringen, die heißen Bäder, die Pflanzengifte und Tinkturen, samt den Stricknadeln von dubiosen Kräuterkundigen das „Ungewollte“ nicht austreiben konnten. Aus Gründen der „Schicklichkeit“ und des Anstands kamen und kommen heute immer noch, wenn man genau nachrechnen würde, viele Säuglinge schon nach sieben Monaten mit normalem Gewicht und Größe auf die Welt, da sie ja tatsächlich neun Monate im Bauch der Mutter verbracht haben und deshalb keinen Brutkasten benötigen.
Genauso wie wir als Ungeborene jede Gefühlsregung unserer Mutter, durch Freude, Kummer und Unwohlsein im wahrsten Sinne des Wortes in ihr miterleben, fühlen wir auch ihren Stress, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, ungewollt schwanger geworden ist. Wir sind mit der ersten, engsten und wichtigsten Beziehung unseres Lebens durch eine Nabelschnur verbunden und deshalb eins, mit unserer Mutter und all ihren Empfindungen. Darum möchte ich behaupten, dass viele der so ausdrücklich betonten „Wunschkinder“, wie auch die, die nur durch aufwändige ärztliche Hilfe entstanden sind, während der Schwangerschaft und Geburt eine Art Aura von verstörten Gefühlen wahrnehmen und erleben, von denen sie ihr Leben lang, ebenso ungewollt, begleitet und vielleicht sogar gestört werden – in jeder Beziehung.
„Beziehungsgeschichten“ ist ein Buch über uns Kriegs- und Nachkriegskinder, die nie richtig gelernt haben, über das zu reden, was uns unangenehm ist. Viele von uns wurden mit „Halt den Mund" zum Schweigen gebracht, wenn wir durch unsere kindlichen Fragen Tabuthemen ansprachen und lernen mussten, was man sagen darf und was nicht, obwohl wir ebenso gelernt haben, dass man nicht lügen darf oder soll.
Besonders die Jungen wurden und werden immer noch durch das männliche Schweigen geprägt, wenn es um Gefühle in Beziehungen geht. Man(n) muss eben cool sein, in jeder Beziehung.
Die uns durch die Werbeindustrie vorgegaukelte und weichgespülte Realität mit all ihren Verlogenheiten, Heimlichkeiten und Hoffnungen auf ein glückliches Leben sorgen in Wirklichkeit nur dafür, dass die Beziehungen vieler Menschen nur durch den Konsum dieser Artikel erträglich zu sein scheinen. Das morgendliche Ritual, besser aussehen und riechen zu müssen als alle anderen, wird durch die Heile-Welt-Atmosphäre mit Schatzi hier und Küsschen da, zwischen Tür und Angel auf dem Weg zur Arbeit zurechtgebogen, obwohl man eventuell wegen unausgesprochener Probleme eine Stinklaune hat. Dieses gewünschte „Piep-piep, wir haben uns alle lieb“ ist allerdings allzeit bedroht.
Ganz schnell kann durch einen Schicksalsschlag, wie einen plötzlichen Schlaganfall oder Unfall im familiären Umfeld die schöne Heile-Welt-Seifenblase platzen, weil die gewohnte und Sicherheit gebende Ordnung gestört ist. Ein Gefühl von Unsicherheit, Angst und eine gewisse Verstörtheit überfällt die meisten Angehörigen und ihre Beziehungen miteinander wie eine nicht enden wollende Lähmung, wenn sich der Rhythmus des Lebens durch eine familiäre Pflegesituation ändert. Tagesabläufe sind plötzlich gestört, das vermeintlich lebensnotwendige Lieblingsdeo ist aufgebraucht und die Drogeriemarktkette hat nach dem Krankenhausbesuch schon geschlossen. Und zu allem Unglück hat die geliebte Doku-Soap-Serie im Vorabendprogramm schon angefangen. Das ist Stress pur für das eine oder andere Familienmitglied. Besonders für diejenigen, die sich darüber richtig aufregen können, um sich unbewusst aus der Lähmung der Störung zu lösen. Diese tausend kleinen Unwichtigkeiten haben einen großen Einfluss auf unsere Gefühle und lassen uns ganz schnell durch eine unbedachte Redewendung des anderen verbal entgleisen.
Ganz unabhängig davon, wie gern man sich mag, stören die täglichen Krankenhausbesuche den gewohnten Tagesablauf, und je länger sich das hinzieht, desto stärker schwanken die Gefühle. Wie intensiv die Situation als Störung empfunden wird, hängt davon ab, wie wichtig uns die Beziehung zu dem Pflegebedürftigen ist. Ist es der/die Geliebte, der langjährige Partner, Mutter, Vater – oder eine Tante, bei der es eventuell etwas zu erben gibt? Das emotionale und gedankliche Pendeln zwischen Liebe, Anstand und Moral sorgt für das entsprechende Empfinden während solcher Ausnahmezustände unseres Alltags. Wenn dann die pflegebedürftige Person mit all ihren Problemen nach Hause entlassen wird, klärt sich im Laufe der nächsten Wochen das bisher weich kuschelte Beziehungsgeflecht aller Familienmitglieder durch das Erleben der Realität ihrer Beziehungen.
Anders ist es, wenn Kinder aus dem Krankenhaus entlassen werden. Dann geht bei ihnen und den Eltern meistens die Sonne wieder auf. Es sei denn, irgendetwas stört in irgendeiner Art und Weise die Beziehungen. Leider merken die Kinder das zuerst und sind immer die Haupt-Leidtragenden, wie es das Wort schon sagt – und vielleicht ein Leben lang. Eine für uns Erwachsene banale Situation, kann für Kinder ein ganz anderes Gewicht haben und bei ihnen nach Jahrzehnten der Auslöser z. B. für eine depressive Episode sein. Die Erinnerung ist plötzlich da, und sie erkennen oft ganz erstaunt, dass sie dieses Gefühl schon mal erlebt haben mit allen Farben, Geräuschen und Gerüchen der Kränkung, die sie damals unbewusst gespeichert haben.
Das ist der Alltag mit den Gefühlen, über die man nicht redet, darüber wird der Mund gehalten.
Den meisten Familienangehörigen und Pflegenden fällt es sehr schwer, offen auszusprechen, was sie wirklich fühlen. Wenn sie wüssten, dass es fast allen Menschen in vergleichbaren Situationen genauso geht wie ihnen, würde es sie und ihr schlechtes Gewissen unendlich entlasten. Es tut richtig gut, wenn man durch offene Gespräche mit anderen Menschen erlebt, dass auch sie im tiefsten Inneren ihrer Seele so „eigennützig“ denken, es aber ebenso nach außen hin verheimlichen.
Nur in fairen ehrlichen Beziehungen lassen sich die unangenehmen Störungen des Alltags gemeinsam meistern, wenn alle in einem Boot sitzen und durch Einigkeit dafür sorgen können, besser durch die Stromschnellen des Lebensflusses zu steuern, ohne zu kentern. Es verstärkt die Erkenntnis, dass ein rücksichtsvoller Umgang miteinander auch ein Stück Lebensqualität ist, der einem selbst zugutekommt, wenn man den Mut hat, mit sich und anderen ehrlich zu sein, egal wie alt man ist.
Wir waren alle mal Kinder, und die meisten von uns bekommen selbst irgendwann eigene. So werden aus Kindern wiederum Eltern, die noch Beziehungen zu ihren Eltern haben, wie auch zu ihren eigenen Kindern, die dann irgendwann auch wieder Kinder bekommen. Daraus entstehen logischerweise manchmal sehr eng miteinander verflochtene Beziehungen, die angenehm sein können, weil sie Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Andererseits birgt die damit verbundene Enge durch die oft sehr verstrickten sozialen Bindungen und Abhängigkeiten mit allen anderen auch die Gefahr, dass der Einzelne sich wie in einer Zwangsjacke fühlt.
Denken Sie nur mal an die besagten Familientreffen zu Weihnachten, auf die sich alle irgendwie freuen und trotzdem froh sind, wenn sie anschließend wieder fahren können.
Wenn wir es nicht schaffen, mit denen darüber zu reden, die unser eigenes Leben in selbst wunderbaren Beziehungen, für uns manchmal viel zu eng werden lassen, sorgen wir selber dafür, dass wir zwangsläufig das Leben der anderen leben müssen. Und dann ganz sicher so, wie wir das als Kind gelernt haben, also möglichst ohne Widerspruch, damit immer die anderen zufrieden sind.
Eltern bleiben für die Kinder immer die Eltern, Kinder bleiben für die Eltern immer die Kinder, auch wenn sich daraus in der Öffentlichkeit manchmal ganz schön peinliche Situationen für alle Betroffenen entwickeln können, weil sich einer der Beteiligten traut, zu irgendeinem Thema laut „Nein“ zu sagen. Das sind dann die Standardsituationen für das gefühlte „Fremdschämen“ in Beziehungen, das manchmal dafür sorgen kann, dass man sich im wahrsten Sinne des Wortes in jeglicher Beziehung schämt, die man mit und zu dem anderen hat.
Unbesprochene Beziehungsprobleme der letzten Jahrzehnte zwischen Alt und Jung lassen sich nicht Wegkuscheln und Schönreden. Deshalb sollten wir alle unsere Beziehungen, die uns – aus welchen Gründen auch immer – wichtig sind, pflegen, auch wenn wir meinen, mit Pflege nichts am Hut zu haben.
Es ist ganz interessant, mal über seine Beziehungen nachzudenken, auch wenn man sich nicht auf einem „Selbstfindungstrip“ befindet.
Wie gehe ich mit meinen Beziehungen um, ohne sie zu umgehen oder heimlich zu hintergehen?
Wie gehe ich mit meinen Beziehungen um, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, mal schwierig und unangenehm werden?
Was mache ich, wenn meine Beziehung zu jemandem, den ich gerne mag, durch notwendige Ehrlichkeit ins Wanken gerät?
Warum bin ich entrüstet, wenn mein Partner vor mir Geheimnisse hat, obwohl ich mich genauso verhalte?
Worauf beziehen sich meine Beziehungen wirklich?
Wie viel Ehrlichkeit und Offenheit kann und will ich selber einbringen? Wie viel und was erwarte ich diesbezüglich von anderen?
Das wahre Ausmaß unserer vielfältigen und teilweise sehr verlogenen Beziehungswelt wird den meisten von uns erst bewusst, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen die Hilfe anderer benötigen und durch ihre Abhängigkeit nicht mehr in der Lage sind, den unangenehmen Dingen und Beziehungen in ihrem Leben auszuweichen.
Ich habe viele Jahre mit Gruppen von Familienangehörigen und professionell Pflegenden gearbeitet und diese moderiert. Sie waren und sind immer dankbar für jegliche Motivation, endlich über Dinge reden zu können, über die man eigentlich nicht redet.
„Nein, das kann unsere Mutti nicht mehr beißen“, sagte die Tochter lauthals zu dem Kellner, als sich ihre Mutter im Restaurant ein Steak bestellen wollte.
Gut, dass das die alte Dame nicht richtig mitbekommen hatte, denn sie wirkte auf mich nicht dement und schien nur durch ihre Schwerhörigkeit etwas gehandicapt und verlangsamt zu sein, was die Wahrnehmung ihres Umfeldes anging. Das war ein Glück für die auf schrecklich glamouröse Familie machende Tochter, denn ihre im Rollstuhl sitzende Mutter war durch diese trampeltierartige Takt- und Distanzlosigkeit ihrer Tochter sowieso schon die ganze Zeit auf Krawall gebürstet. Selbst der Kellner bekam einen hochroten Kopf und schaute sich vorsichtig um, als wenn er sich dafür schämen müsste, solche Gäste zu haben. Geschickt rettete er die ganze Situation und empfahl zartes Hähnchengeschnetzeltes in Sahnesoße mit Champignons und hausgemachten Bandnudeln.
„Ja, das geht…“, sagte die Tochter
„Was geht?“, fragte „Mutti“.
„Ach nichts, ist schon gut, Mutti“, sagte die Tochter und merkte gar nicht, wie ihre Mutter immer mehr unter Dampf geriet.
Als dann die ersten, von Mutter geschlürften Bandnudeln, die Sahnesoße nicht nur auf dem ganzen Tisch, sondern auch auf dem dunkelblauen Kostüm der Tochter verteilten, fühlte ich mich am Tisch gegenüber, wie in einer Filmszene von Loriot, zumal mir „Mutti“ kurz vorher schmunzelnd zugezwinkert hatte. Da war mir klar: „Mutti“ hat mit ihrer Tochter nicht nur eine Rechnung offen. Was für mich ein schöner warmer Septembertag in der Freiburger Altstadt war, schien sich für die Tochter von „Mutti“ zu einem Desaster zu entwickeln.
Leider musste ich die „Freilichtbühne“ des Restaurants verlassen, um meinen ICE nach Gütersloh noch zu kriegen. Während der Fahrt im Zug malte ich mir gedanklich noch Stunden später in schillernden Farben aus, was da zu Hause bei der glamourösen Familie abgehen musste, wenn „Mutti“ ihrer Tochter über den Weg von richtig „vollen“ Attends zeigen würde, dass es noch viele unbeglichene Rechnungen zwischen ihnen gibt und wie gestört ihre Beziehung tatsächlich ist.
Wenn dann noch durch die jahrelange Pflege oder einen eventuell hinzukommenden Heimaufenthalt „Muttis“ Häuschen aus finanziellen Gründen draufgeht, dann geht in dieser Beziehung noch richtig die Post ab. Immerhin hat sich die Tochter als vermeintliche Alleinerbin schon seit Jahren mit ihrer ganzen Familie im Häuschen breit gemacht und glaubt, sich das alles durch ihre „Aufopferung“ für „Mutti“ verdient zu haben.
In so einem hochexplosiven Beziehungsgeflecht kann tatsächlich schon mal eine Hand ausrutschen, oder es wird im Internet recherchiert, was es außer Arsen noch gibt. Oder es wird „vergessen“, dass die Treppensicherung nicht richtig eingehakt ist, die eigentlich verhindern soll, dass „Mutti“ nicht samt Rollstuhl die ganze Treppe hinunter stürzt.
Ich will mit den eben geschilderten drehbuchartigen Zeilen nur aufzeigen, wie sich im Laufe von Jahren und Jahrzehnten das in der Beziehungsmüllkippe gebildete Gas ganz plötzlich durch eine Redewendung, ein Schreiben vom Finanzamt oder die im Hintergrund lauernden vermeintlichen Erbberechtigten in ein hochexplosives Gemisch verwandeln kann, das nur noch einen Funken unserer alltäglichen Verlogenheit braucht, um es zu zünden und zu einer Story für die Bild Zeitung zu machen. Es ist unvorstellbar, was da für Deckel hochgehen, wenn Menschen die Chance bekommen, ohne Gesichtsverlust mit sich selbst ehrlich zu sein und dann noch den Mut aufbringen, darüber zu reden.
Offenheit und Ehrlichkeit sollten eigentlich in allen guten Beziehungen selbstverständlich sein, aber die Realität ist eine andere.
Wir Menschen belügen uns tagtäglich, in allen Lebenslagen, ob privat
oder beruflich, mal mit kleinen Notlügen, die manchmal ganz niedlich sein können, bis hin zu strategischen Lügengeschichten wie sie durchaus auch in der Politik vorkommen. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, über die unangenehmen Dinge des Lebens zu reden, selbst wenn das den unendlichen Wunsch nach perfekter Harmonie ganz schön stören kann.
Nach der realitätsblinden, romantisch verklärten Anfangsphase unserer ersten Verliebtheit, scheint die Liebe in vielen Paarbeziehungen durch die Realität des Alltags nach einiger Zeit zu verblassen, auch wenn man sich das in den ersten Monaten und Jahren der Zweisamkeit überhaupt nicht vorstellen kann, dass es mal soweit kommen könnte. Meinungsverschiedenheiten werden vermieden, viele passen sich einander so an, bis nichts mehr von einem selbst da ist und aus zwei selbstständigen, lebensfrohen Individuen, ein total voneinander abhängiges „Wir“ geworden ist. In der Öffentlichkeit wirkt es wie ein hilfloser Versuch, durch übermäßiges „Schatzi“ hier und „Mäuschen“ da Gehabe, die längst vergangenen glücklichen, schönen und lebenswerten Augenblicke krampfhaft bis in alle Ewigkeit festhalten zu wollen.
Durch romantische Verklärungen scheitern kuschelig gehauchte Beziehungen ganz oft daran, dass einer (oder beide) allzu oft die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zurückstellt, nur damit der andere zufrieden ist und Streit vermieden wird. In Partnerbeziehungen werden ab dem Zeitpunkt der einmalig-romantisch verklärten Liebe alle bisherigen Jugendfreunde desselben Geschlechts bedeutungslos. Wenn aber nun der Ehealltag zu den ersten Krisen führt, fehlen die alten Jugend-Busenfreunde, mit denen man auch mal vertrauensvoll über den Ehepartner herziehen dürfte.
„Als Folge erleben wir alle das Heer der Depressionen und Alkoholsüchte im mittleren Lebensalter, die Pawlowski in diesem Buch mit allen Facetten lebensnah beschreibt. "Dies als letzter Beweis, dass die Menschen zunächst Beziehungswesen sind, bevor wir auch mal Individuen sein können.“
(Zitat aus dem Vorwort von Prof. Dörner)
Leider geht deshalb vielen Menschen ein Großteil ihrer individuellen Einzigartigkeit durch übermäßiges Anpassungsverhalten verloren – in jeder Beziehung.
Dieses gemeinsame Harmoniebedürfnis zieht sich von Sylt über Dortmund bis Kitzbühel und ist nur so lange einigermaßen ehrlich, wie „Schatzi“, „Haserl“ und „Mäuschen“ noch ab und zu Schmetterlinge und Flugzeuge im Bauch spüren.
„Wir gehören zusammen wie der Wind und das Meer“, hieß es mal in einem Schlager. Das sorgt dann dafür, dass viele Lebenspartner jahrzehntelang an der Nordsee immer in der gleichen Pension wohnen, die gleichen Regenjacken und Gummistiefel tragen, im Restaurant immer das Gleiche bestellen, nur gemeinsam ausgehen und nur gemeinsame Freunde mit den gleichen Hobbys haben. Wenn das beide so wollen und es trotzdem kein Problem ist, wenn einer von beiden auch mal alleine ein paar Tage wegfahren möchte, ohne dass es Stress in der Beziehung gibt, dann kann ich nur sagen: Glückwunsch, denn das gibt es selten.
„Leider unterscheiden sich die Menschen sehr in ihrer Fähigkeit, in der Abwesenheit des Geliebten die guten Gefühle zu behalten. Wer als Kind nicht erlebt hat, dass sich Eltern über seine Selbstständigkeit freuen, tut sich oft schwer damit, Trennung zu ertragen.“
Zitat aus „Die Zeit“-Kolumne: DIE GROSSEN FRAGEN DER LIEBE von Wolfgang Schmidbauer
Spätestens jedoch, wenn sie sich im Restaurant gegenüber sitzen und nicht mehr viel, oder gar nichts mehr, zu sagen haben, merken beide, dass nicht nur ihre Schmetterlinge und Flugzeuge im Bauch den Flugverkehr eingestellt haben, sondern dass bis auf ein paar holprige Notlandungen, jeglicher Verkehr nachgelassen hat. Nach und nach verblasst ganz allmählich die notwendige Nähe und Geborgenheit in vielen Beziehungen durch die grelle Realität des Alltags, mit all seinen Entschuldigungen, warum man jetzt gerade keine Zeit hat, wenn der andere auf irgendwas Lust hat, was bisher eigentlich allen beiden Freude bereitete.
Das Kuschelbedürfnis aus den ersten Jahren der Verliebtheit blitzt manchmal am Samstagabend durch Musiksendungen im Fernseher wieder auf, aber irgendwie kann man sich nicht so verhalten, wie man sich fühlt, wenn die Kinder dabei sitzen. So bleibt einem nichts anderes übrig, als sich in Gedanken wegzuträumen, um den Alltagsstress zu vergessen.
Wenn man sich schon jahrelang nicht mehr viel zu sagen hatte, kann einem die äußerliche „Schatzi“- und „Mäuschen“-Fassade auch nicht mehr wirklich helfen. Das scheint bei manchen Paaren nur eine mehr oder weniger unbewusste Maskerade zu sein, um dem Partner eine weiterhin sichere Partie vorzugaukeln, wie ein buntes Trostpflaster auf einer nicht mehr zu heilenden Wunde.
Eine Zeit lang kann man den manchmal fast menschenunwürdigen Umgang miteinander verdrängen und unter den Teppich fegen. Bis es durch die unbesprochenen Dinge unter diesem so voll wird, dass man mitsamt der eigenen Wut und traurigen Hilflosigkeit diese zunehmende Enge nicht mehr aushalten kann. Diese permanenten Kränkungen und Störungen unserer Gefühlswelt sorgen für Schlafstörungen, Unruhe, psychische sowie körperliche Probleme und dafür, dass die Apothekenzeitung stets die passenden Mittelchen dafür parat hat. Die lösen allerdings die Probleme nicht auf, sondern unterstützen unser hilfloses Herumdoktern an einzelnen Symptomen, bis wir irgendwann wirklich ernsthaft krank werden können.
Der hierdurch entstehende Druck kann dafür sorgen, dass Beziehungen irgendwann regelrecht auseinanderfliegen, wenn einer von beiden den Druck nicht mehr aushalten kann oder will. Das eigene Bedürfnis nach Nähe, Wärme und Geborgenheit sorgt andererseits oft über das natürlichste Ventil der Welt, für einen Druckausgleich im wahrsten Sinne des Wortes. Dieses Ventil heißt Sexualität und wird häufig durch eine anfangs harmlose Affäre ausgelöst.
Auf ihrem gemeinsamen Lebensweg führen viele Menschen ihre Beziehungen heimlich zwei- oder gar mehrgleisig, was den Druck auf Dauer nicht wirklich reduziert, sondern zu Hause eine neue zusätzliche Deponie mit unbesprochenen Heimlichkeiten entstehen lässt. Das ist wie der stete Tropfen, der den Stein höhlt, der das Perpetuum mobile der Entzweiung antreibt und den Druck erhöht, bis alles auseinanderfliegt. Oder der durch Verzweiflung Gekränkte wird tatsächlich schwer krank, sodass er sich über diesen Umweg unbewusst mehr Nähe vom anderen erpresst.
Das ist wie bei zwei gleich starken Magneten, die sich so lange gegenseitig anziehen, bis sich ein Pol durch von außen einwirkende Kräfte umdreht und somit zwangsläufig abwendet bzw. sich regelrecht abstößt. In vielen Beziehungen sind dann die Heimlichkeiten und der daraus entstehende, unter den Tisch und Teppich gekehrte Beziehungsmüll, der (abstoßende) Grund der Trennung.
Solange unbehandelter Seelenmüll nicht entsorgt, oder wenigstens durch entlastende Gespräche etwas recycelt und somit reduziert wird, können sich beide nicht näherkommen und wieder anziehend finden. Manchmal ist die dauerhafte Trennung auch eine Lösung, wenn man sich mit dem Recyceln nicht beschäftigen möchte. Hält man aber Abstand zum Seelenmüll, spricht man nicht darüber, was einen bedrückt, stört der Grund und das, was dahintersteckt, erst mal nicht. So umgehen wir nicht nur unsere Probleme, sondern auch unseren Partner, uns selbst und freuen uns trotz zeitweilig gemeinsamer Sprachlosigkeit auf die Musiksendungen am Samstagabend im Fernseher.
Da Müll sich im wahren Leben nur ganz langsam über viele Jahre oder Jahrzehnte von selbst etwas reduziert, bleibt immer einer lange auf ihm sitzen und hat bis an sein Lebensende irgendwie damit zu tun. Damit kennen sich nicht nur Gemeinden und Landkreise aus. Eine alte Deponie zu recyceln ist viel aufwändiger, als von vornherein Müll zu vermeiden. Das gilt auch für Paarbeziehungen: Wenn sie von Anfang an über unangenehme Dinge reden und diese verbal recyceln, reduzieren sie über den einfachen Katalysator der Ehrlichkeit, den Beziehungsmüll und haben eine große Chance, gemeinsam alt zu werden. Dadurch, dass man sich mit ihm beschäftigt, ist er dann auch beiden präsent und muss nicht weiter heimlich unter den Teppich gekehrt werden.
Durch Dasein und Zuhören wird das Leben aber trotzdem nicht einfacher, und nicht alle Probleme lassen sich lösen oder ausdiskutieren. Aber wenn wir wissen, dass sie da sind, kann man besser mit ihnen umgehen und sie manchmal auch im wahrsten Sinne des Wortes bewusst so umgehen, dass ihre negativen Auswirkungen auf Dauer überschaubar bleiben.
Das Bedürfnis, aus dem Leben der anderen auszubrechen, um sich selbst und sein eigenes Leben wieder spüren und leben zu können, kommt viel häufiger vor, als wir alle denken. Die Gedanken aller Menschen sind frei, unser persönliches Leben dagegen selten. Beziehungen sind manchmal wie ein Anker, sie können uns viel Halt geben, hindern uns aber andererseits auch oft am „Auslaufen“, um mal auf „Freie Fahrt“ gehen zu können.
Dann kann es vorkommen, dass die unter den Tisch gekehrten Probleme durch das vermeintliche Problemlösungsmittel Alkohol zum Sprengstoff in der bedrückenden Enge jeder Beziehung werden. Im Nachhinein weiß man dann nicht, worüber man gestolpert ist. Lag es an den unter den Teppich gekehrten Problemen, die schon große Beulen machen, oder lag es an dem unter dem Tisch aufgestauten unbesprochenen Beziehungsmüll – oder einfach nur an den Auswirkungen des Alkohols? Ein verkehrtes Wort mit nur einem Funken Wahrheit reicht dann aus, um das Gas der Beziehungsmüllkippe zu zünden und ein Beben anschließendem Tsunami auszulösen, dem auch der beste Anker nicht standhält. Was soll er auch halten, wenn die gefühlsmäßige Bindung zwischen zwei Menschen, die ihren Halt und Bezug mit- und zueinander verloren haben, gestört ist oder sogar nicht mehr existiert?
Die vielen Ausreißer/innen, Schürzenjäger und Vernachlässigten kennen wir alle aus unserem Alltag, aber solange kein Tsunami kommt... Der trifft sowieso immer nur die anderen, da wir meinen, diesbezüglich unsere eigenen Gefühle und heimlichen Bedürfnisse dauerhaft verdrängen zu können. Die meisten Anker lösen sich, weil sie ihren ursprünglichen Bezug zum Grund (ihrer Beziehung) und somit jeglichen Halt verloren haben, um bei der bildhaften Beschreibung zu bleiben. Ein mitreißendes Volks-, Vereins- oder Schützenfest, ein Kuraufenthalt, ein schöner Abend am Urlaubsstrand sowie der Flirt in der Kantine genügen dann als Check-up, um herauszufinden, „was noch geht“.
In Anbetracht dessen, dass inzwischen fast jede 2. Ehe geschieden wird, kann man sich glücklich schätzen, wenn man es von Anfang an schafft, miteinander fair und ehrlich umzugehen, ohne sich irgendwann umgehen zu müssen. Andererseits besteht nur so die Chance sich einzugestehen, wir mögen uns immer noch gerne, haben aber im Laufe der Jahre doch festgestellt, dass wir uns gegenseitig nicht die Freiräume geben oder zugestehen können, die wir brauchen, um zufrieden zu sein. Das ist dann die Gelegenheit, einmal das, was sich in der Zwischenzeit unterm Teppich staut, anzusprechen. Und wenn es dann noch ohne Vorwürfe gelingt, dem anderen zu erklären, was einem das Leben zu eng macht, dann haben wir es geschafft, selbst auch ein bisschen „Pilcher“ zu leben.
Das ist dann die Chance, zu einer gemeinsamen Korrektur des gemeinsamen Lebens oder mit den dazugehörenden Tränen und ein paar verbalen Streit-Blessuren auseinanderzugehen. Diese Art der Trennung gewährleistet eine Art Recycling für den gemeinsamen Seelenfrieden und ist viel erträglicher als eine Scheidung mit Hauen, Stechen und oft unfairen Schuldzuweisungen. Sie bietet beiden Partnern die Möglichkeit, freundschaftlich verbunden zu bleiben, auch wenn es so etwas eigentlich nur in Romanen gibt.
Die meisten Paare bleiben nur deshalb zusammen, weil sie mal „ja, bis dass der Tod uns scheidet“ gesagt haben, weil es keinen Ehevertrag gibt und bei einer Scheidung alles geteilt werden muss. Und dann sind da noch die Kinder, die Verwandten und die Nachbarn. Was sollen die denken?
Unter dem Deckmantel der Verlogenheit, die wir so gut tarnen, dass wir sie selbst kaum wahrnehmen, neigen wir immer wieder zum schmerzhaften Selbstbetrug. Wir versuchen auf Kosten unserer körperlichen Gesundheit alles zu verdrängen und merken nicht, dass sich die seelischen Kränkungen und der daraus entstehende Druck in unserem Kopf unaufhaltsam in unseren Rücken verlagern, der uns dann auch die passenden Signale gibt.
Wenn jemand im Ruhrpott zum „Dr. Stratmann“ geht… „mit oder wegen Rücken“, sollte der Dr. eigentlich fragen: „Was tut dich drücken?“ Entschuldigung, aber solche flach wirkenden „gutbürgerlichen“ Redensarten und der ein oder andere platte Witz haben mir die Tür und die Herzen von vielen verbitterten Menschen geöffnet.
Ich habe als Fachkrankenpfleger für Psychiatrie bei meinen Hausbesuchen in vielen Heimen und ganz „normalen“ Familien erschreckende Beziehungsdramen erlebt, die anfangs ganz heimlich und leise im Hintergrund des Lebens lauerten und dann durch eine unverhoffte Pflegesituation für viele Familienmitglieder einen ganz dramatischen, unheilvollen Verlauf nahmen.
Das Bild der „heilen Familie“ kommt bei vielen jüngeren Menschen schon ins Wanken, wenn sich die ganze Familie zu Weihnachten trifft. Spätestens in der Pubertät erleben sie, dass das Leben nicht so ist, wie die Eltern es gerne hätten und selbst nicht mal vorleben können. Diese Kinder wiederum erkennen meistens erst dann, was die Eltern meinten, wenn sie selbst Eltern geworden sind. Dann versuchen sie häufig einen Mittelweg zu finden, zwischen ihrer eigenen Prägung durch die Eltern, ihrem ursprünglichen Freiheitsdrang während der Pubertät und ihrem heutigen, irgendwie doch gesellschaftlich angepassten Verhalten.
Die wenigsten Kriegs- und Nachkriegskinder, die heute zwischen 60 und 90 Jahre alt sind, haben gelernt, über zwischenmenschliche Beziehungen und Probleme zu reden. Ihre nachfolgenden Generationen scheinen diese Hemmungen geerbt zu haben, über gewisse Dinge nicht reden zu können oder nicht zu wollen.
Da muss ich mir auch an die eigene Nase fassen,… meine Kinder mussten auch erst erwachsen werden und ich sehr krank, bis wir gemerkt haben, dass bei uns auch viel zu wenig über Gefühle geredet wurde. Und selbst dieses Wissen alleine reicht nicht aus, dass man von nun an automatisch mehr miteinander spricht.
Wenn man schon seit vielen Jahren, nicht nur wegen des Schnarchens, getrennt schläft oder eigentlich nur noch wegen den Kindern, Enkelkindern, dem gemeinsame Vermögen, den Nachbarn und der heilen Welt nach außen zusammenlebt, dann ist das mit der durch eine plötzliche Pflegesituation aufgezwungenen Intimpflege des Partners, schon etwas heikel und unangenehm. Ähnliche Probleme bekommen auch Paare, die sich nie streiten, die immer alles gemeinsam gemacht haben und einfach über bestimmte Dinge nicht reden, weil man über „gewisse“ Dinge eben nicht spricht. Dann wird aus der jahrelangen gegenseitigen Zwangsbeglückung beider Partner eine gefühlte Zwangsjacke, die sich mit jedem Moment der Überforderung in einer Pflegesituation immer enger zieht.
Wenn nur noch einer von beiden mobil ist, fühlt sich der Pflegebedürftige als Hemmschuh und erlebt in sich eine grausame Mischung aus hilfloser Traurigkeit, Angst und Wut. Hinzu kommt die Not, dem anderen so nicht mehr zu genügen, mit all den Verlustängsten, die dazu gehören. Der noch mobile Partner fühlt sich nach Jahren und manchmal auch schon nach Monaten der Pflege ebenso am Leben behindert, traut sich aber nicht, mit jemanden darüber zu reden, weil sich das ja nicht gehört und man sich mal vor langer Zeit das Ja-Wort gegeben hat… „in guten, sowie in schlechten Zeiten“. Dann ist bei beiden die gemeinsame Talsperre der Tränen bis zum Rand voll, und es bedarf nur einer kleinen Erschütterung durch den ersten richtigen Streit in ihrer Beziehung. Dann bricht nach Jahrzehnten scheinheiliger Welt eine Flutwelle, über das bisherige Leben hinweg und spült alle versäumten Träume und Freiräume frei, mit allen unbewussten offenen Rechnungen, die durch das „wir machen alles zusammen“ entstanden sind.
Jeder von uns war schon mal im Krankenhaus und erinnert sich ungern an die kalten Hände von Schwester Inge und an das Trampeltier Schwester Olga mit dem Mundgeruch. In positiver Erinnerung bleiben dagegen die Pflegemitarbeiter, die erst anklopfen, leise grüßen und fragen, ob man einen Wunsch hat und genauso leise wieder gehen, obwohl sie den gleichen Stress haben wie alle anderen Kollegen auch. Aufgrund der kurzen „Liegezeiten“ im Krankenhaus sind diese Phasen der eigenen Hilfsbedürftigkeit gut auszuhalten. Aber wenn man über Monate oder Jahre von schlecht gelaunten Drachen abhängig ist, die sich selbst und ihr eigenes, unter der allgemeinen Verlogenheit leidende Leben kaum noch ertragen können, dann möchte ich weder Pflegebedürftiger noch der Drache sein.
Wir haben alle Eltern, die uns im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles mitgegeben haben, um in dieser Welt zu bestehen, aber dass sie selbst mal hilfe- oder sogar pflegebedürftig werden, darüber wird in den meisten Familien nicht geredet. Im Gegenteil, wer redet denn offen über die beginnende Inkontinenz in bestimmten Situationen, zum Beispiel beim Husten und darüber, dass man vieles nicht mehr versteht oder einfach nicht mehr will, weil man sich mit unserer schnelllebigen Zeit überfordert fühlt?
Meistens sind es die Ehefrauen, Töchter oder Schwiegertöchter, die dann die stetig steigenden Stückzahlen der Schlüpfer, trotz Sonnenschein, nicht mehr draußen auf die Leine hängen, sondern im Trockner verbergen und die Kontakte in ihrem Umfeld reduzieren, weil sie den neugierigen Fragen ausweichen wollen.
Viele von uns bemerken ihre gestörten Beziehungen zu anderen Menschen erst durch eine von heute auf morgen entstehende Pflegesituation. Nach einigen Wochen oder Monaten wird ihnen ganz langsam klar, dass man mit dem, worauf man sich eingelassen hat, absolut überfordert ist. Das gilt für alle, die in irgendeiner Weise in den Pflegeprozess involviert sind, auch für den Pflegebedürftigen selbst. Wenn ein Schlaganfall dafür sorgt, dass sich der Partner oder die Kinder aus Anstand oder sonstigen „moralischen“ Gründen verpflichtet fühlen, diese schon längst gestorbenen Beziehungen wiederzubeleben, werden sie feststellen, wie viele Jahre oder Jahrzehnte sie sich selbst und die anderen belogen haben.
Trotz aller von Herzen kommender Fürsorglichkeit, kann sich die durch die Situation entstandene unausweichliche Nähe, z. B. zu den Eltern, nach dem ersten Schreck ganz langsam und heimlich in eine unangenehme und lästige Notwendigkeit verwandeln, die dann das Leben aller Betroffenen irgendwie tangiert, stört und behindert…, wenn sie ehrlich wären.
Das gilt ebenso für Ehen und Partnerschaften, wenn nach vielen Jahren die körperliche Nähe abgeflaut und in eine Art gute Kameradschaft übergegangen ist, die man ebenso wenig vermissen möchte, wie den Partner. Viele Ehepartner, die sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr viel zu sagen haben, die durch ihre Lebensgeschichte miteinander oder jeder für sich aus den unterschiedlichsten Gründen still geworden sind, sind dann mit der durch eine
Pflegesituation, zwangsläufig entstandenen „Reanimation“ ihrer Beziehung und der daraus resultierenden Nähe oft total überfordert. Das sorgt für Unruhe, Angst und schlaflose Nächte bei den Pflegebedürftigen wie bei den Familienangehörigen und sind die Gründe, warum alte pflegebedürftige Menschen so viel beruhigende Medikamente verordnet bekommen, die sie noch mehr „stillen“ und ihre Beziehungen zu den Pflegenden noch mehr stören. Die Pflegenden wiederum sind oft ebenfalls wegen ihrer gesundheitlichen Störungen (s. o.) in ärztlicher Behandlung.
„Gestörte Beziehungen fallen oft erst auf, wenn man sich bei Begegnungen über den Weg von Gefühlen so nahekommt, dass man ausweichen möchte, obwohl man sein Gegenüber mag“, habe ich am Anfang dieses Kapitels geschrieben. Dann fühlt man sich wie vom Leben geblitzt und daran erinnert, dass man in den letzten Jahren zu schnell, zu oberflächlich und irgendwie nur mit sich selbst unterwegs war, obwohl man nicht alleine lebt. Ach ja, da gibt’s ja noch eine Familie.
Dann können die durch Körperpflege zwangsläufig notwendigen intimen Berührungen für alle Beteiligten zur Hölle auf Erden werden, wie eine Ehefrau in einer Angehörigengruppe hinter vorgehaltener Hand ganz schamvoll berichtete.
Aus vielen ursprünglichen Liebesbeziehungen ist nach vielen Jahren nur noch eine füreinander sorgende Zweckgemeinschaft übriggeblieben, man mag sich immer noch irgendwie gerne und leidet gemeinsam darunter, dass alles so gekommen ist. Trotzdem können beide in den seltensten Fällen offen und ehrlich mit ihren dann entstandenen Gefühlen darüber reden. Dann ist bei beiden oder zumindest einem von beiden die vorhin erwähnte gemeinsame Talsperre der Tränen tatsächlich bis zum Rand voll, und es bedarf nicht nur einer kleinen Erschütterung in ihrer Beziehung, um sie zum Überlaufen zu bringen. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass gleich der ganze Damm bricht.
Die erlernten Schutzwälle und Mauern gegen Unangenehmes und die Wahrheit können nie so stark sein, dass sie alles aufhalten können, was auf uns zukommt.
„Das haben wir alle nicht gelernt…“, würde jetzt mein Freund Lutz Dieter Schwede (Diplom-Psychologe und ehemaliger Leiter einer psychiatrischen Tagesklinik) zu solchen Situationen sagen… habe ich im Kapitel „Die kleinen Dinge bewegen die Welt“ geschrieben.
Es gibt Lebenssituationen, auf die uns keiner vorbereitet hat, obwohl wir wissen, dass es sie gibt. Aber es kann ja nicht sein, was nicht sein darf.
Wir haben alle nicht gelernt, dass Beziehungen enden können, aus welchen Gründen auch immer und ebenso haben wir alle nicht gelernt, dass die Liebe in einer Paarbeziehung nur weiter funktionieren kann, wenn die Beziehung ihren Bezug zur Ehrlichkeit und Wahrheit nicht verliert. Dem werden alle Frisch Verliebten kopfnickend zustimmen, denn durch die Sehnsucht nach Vertrauen, Nähe, Wärme und Geborgenheit ist unser Blick auf das Leben und das Miteinander der Menschen in den ersten Monaten oder, wenn wir Glück haben, in den ersten Jahren, romantisch verklärt und das wird durch die schönen Augenblicke der Sexualität noch verstärkt. Doch trotz aller Liebesbekundungen verändern sich Paarbeziehungen nach einigen Jahren durch den Alltag und nach einigen Weihnachtsfeiern in der Firma gibt es doch das ein oder andere Geheimnis bei dem einen oder der anderen…?
Die tausend kleinen Verlogenheiten und Heimlichkeiten, die wir meinen, alle mit uns herumtragen zu können, ohne dass es einer merkt, kosten auf Dauer viel Energie und Kraft. Wenn wir dann ganz unvorbereitet, von heute auf morgen den Damm des Schweigens gegen die Wahrheit und die damit verbundenen Tränen verteidigen müssen, dann sind wir in der Realität angekommen und werden von unseren eigenen Verhaltensweisen auf sehr unangenehme Art und Weise an den Pranger gestellt. So ein Dammbruch der Gefühle mit aller Scham und Hilflosigkeit, die wir dann empfinden, zeigt auf, was man sich und der Familie jahrelang vorgemacht hat und was sich hinter der Mauer des Schweigens durch die Sprachlosigkeit aufgestaut hat.
Da wir alle mal Kinder waren und Eltern haben, die irgendwann im Alter Begleitung, Versorgung oder gar Pflege benötigen, beziehen sich die Themen dieses Buchs nicht nur auf den Lebenspartner. Es bezieht sich auch nicht nur auf die zwei bis drei Millionen Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen in Deutschland, sondern auch auf viele Millionen Menschen, die in irgendeiner Weise von gestörten Beziehungen durch das Mundhalten betroffen sind. Störungen, die sie bisher nicht bewusst wahrgenommen haben, es nicht wollten, oder für die unter dem Teppich noch genug Platz ist, bevor sie und ihre Beziehung darüber stolpern.
Wie oft und worüber wir schon gestolpert sind, nichts daraus gelernt und trotzdem genauso weitergemacht haben, wird uns meistens erst bewusst, wenn sich unser Alltag nach einem Unfall oder einer schweren Erkrankung durch eine intensive Pflege- und Versorgungssituation mit einer plötzlich notwendigen Nähe über uns stülpt, die uns erstmal überrascht, wie ein Überfall. Andererseits beherrschen viele von uns den heimlichen Selbstbetrug (auch dann noch) genauso perfekt wie Millionen andere Menschen und kuscheln sich die Realität durch Helene Fischer, die Musikantenstadl-Sendungen oder eine heimliche Affäre gedanklich weg.
Mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt und besonders dort habe ich, in nach außen hin geltenden „Bilderbuchfamilien“, eine erschreckende kalte Sprachlosigkeit erlebt, was die zwischenmenschlichen Beziehungen und Gefühle angeht.
Auf der einen Seite möchte ich mit diesem Buch auch den Kollegen aus den pflegenden Berufen Mut machen, bei sich, den Kollegen und ihren Klienten mal richtig hinzuschauen, was in ihrem beruflichen Beziehungsalltag so abgeht. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich ihnen nichts Neues erzähle, und die meisten von ihnen sich damit genauso gut auskennen, wie mit dem Mundhalten. Andererseits würde ich viel lieber „Käthchen Krause“ von nebenan und ihre Nachbarinnen erreichen, für die der Alltag nur noch durch Pilcher- und Courths-Mahler-Romane sowie ihre geliebte Soap-Opera erträglich ist.
Viele von ihnen müssen ihren alten Vater versorgen, der ihnen früher als Kind immer beim Baden zugeguckt und sie damals so „komisch“ bedrängt und „fummelnd“ abgetrocknet hat. Oder die eigene Mutter, die davon wusste, aber nie etwas gesagt hat, weil man darüber nicht redet und die bis heute nicht versteht, warum ihre Tochter immer schon so „schwierig“ war.
Ich möchte ebenso die Töchter und Söhne erreichen, deren Väter lange in Kriegsgefangenschaft waren und die gemeinsam mit der Mutter nach seiner Rückkehr unendlich viel körperliche und verbale Gewalt von ihm aushalten mussten, da er nicht mit den seelischen Folgen des Krieges zurechtkam. Ebenso die Söhne, die ihre Väter im Krieg „verloren“ haben und deshalb für ihre Mütter der Vater- oder Partnerersatz in vielen Lebensbereichen waren. Als Kinder waren die meisten von ihnen damit total überfordert und wissen heute als Erwachsener immer noch nicht, warum ihnen diese unverarbeiteten Lebenssituationen nachts über die Bettdecke kriechen. Wenn dann die eigene Mutter von heute auf morgen pflegebedürftig wird und der Sohn die Pflege nicht selbst übernehmen kann, weil er im eigenen Geschäft einen 12-14-Std.-Tag hat, kann er überhaupt nicht mehr schlafen. Die bei ihm im Kopf eingebrannte DIN-Norm des artigen Jungen kann er nicht mehr erfüllen und das hält ihn tagsüber von seiner eigentlichen Leistungsfähigkeit fern und nachts wach, obwohl er immer todmüde ist.
Ich möchte mit meinen Zeilen ebenso den Schwiegertöchtern helfen, die ihre heimlich gehasste Schwiegermutter pflegen müssen, obwohl die ihnen Jahrzehnte lang nur Schlechtigkeiten angedichtet hat. Und den dazu gehörenden Männern erklären, dass sie ihren Frauen durch zeitweiliges Zuhören und für sie da sein unendlich helfen können, auch wenn sie selten zu Hause sind.
Für eine anstehende Erbschaft ist manchmal das Aushalten von gestörten Beziehungen anscheinend eine Art Vorfälligkeitszins, den man zu zahlen hat.
Ich bin mir ganz sicher, dass die Inhalte meiner Erfahrungen nicht nur viele tausend Pflegende anspricht, sondern jeden, der ein Kriegs- oder Nachkriegs-Kind/Enkel ist. Und das sind wir in gewisser Weise doch alle.
Es geht um die oft nicht änderbaren Dinge des Alltags, die uns erdrücken, wenn wir sie nicht vorher rauslassen. Ohne die Möglichkeit darüber reden zu können, wird die Last irgendwann unerträglich und kann dazu führen, dass die Bild Zeitung neue Schlagzeilen bekommt.
Ich habe über 30 Jahre als Fachkrankenpfleger für Psychiatrie gearbeitet und erst 2006, ein Jahr nach dem Suizid meines Vaters durch Erhängen, erfahren, dass er als junger SS-Angehöriger in Ostpreußen an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein soll. Durch die dauernde Angst vor dem Vater entwickelte ich als Kind unbewusst eine regelrechte Überlebensstrategie, da er mir immer wieder androhte: „Wenn du so wirst wie deine Mutter, schlage ich dich irgendwann tot.“ Durch absolut kontrolliertes, vorsichtiges Verhalten, leise Bewegungsabläufe zu Hause, häufiges Verstecken, artig sein, voreilenden Gehorsam usw. versuchte ich, seine Brüll- und Prügelattacken auszuhalten, um zu überleben. Deshalb hat es mich anfangs gar nicht erschreckt, von seinen Kriegsverbrechen zu erfahren.
Ich musste sofort an Textpassagen des Songs „Leben“ der Gruppe „Pur“ von ihrem Album „Abenteuerland“ (1995) denken:
„Wie nur konntest du das tun?
Hast du nichts dabei gefühlt?
Was nahm dir all die Skrupel, all die Scham
Du hast gewissenlos gehorcht
Mord befohlen, ausgeführt
Das Gas war leise, nur die Schreie laut
Die Bilder machen fassungslos
Gruben voller Leichen
Voller nicht erfüllter Hoffnungen
Du hast als Richter, Henker
ihre Zukunft geraubt
Wie kann ein Mensch zum Unmensch werden?
Das höchste Gut mit Füßen treten Leben –
mehr als nur zu überleben
Leben – das ist Ursprung und Ziel
Leben – als kleiner Teil des großen Ganzen
Lebenswert zu sein…“
Endlich hatte ich eine schlüssige Erklärung für die Art und Weise, wie mein Vater gelebt, gedacht, mich erzogen und gepeinigt hat. Trotzdem tut das nicht mehr Änderbare unendlich weh.
Seit dieser Zeit versuche ich, das Unfassbare zu verarbeiten, die erlernten Verhaltensmuster von Anstand, Ehre und Moral im Kontext zur Realität und unseren oft verlogenen Familienbeziehungen zu sehen. Aber es gelingt mir immer noch nicht richtig, weil die Wahrheit manchmal schlechter auszuhalten ist, als die Lüge.
Da die Erinnerung an meine ersten 12 Lebensjahre durch traumatische Erlebnisse, wie auch ein Teil der Zeit bis zum 18. Lebensjahr, meine Kindheit für mich nur wie in wabernden Nebelschwaden erscheinen lässt, ist es umso wichtiger, mir die Anteile, die in mir immer wieder eine unendliche Traurigkeit und Wut auslösen, genau anzusehen, um die oft in Träumen aufgeschäumten Emotionen mit der Realität und Wahrheit abzugleichen.
Meine inzwischen 86-jährige Mutter lebt noch. Mit ihr lebte ich nach ihrer Scheidung von meinem Vater drei Jahre lang in Solingen. Dann musste ich wieder zu meinem Vater ziehen, nachdem sie einen Mann mit drei Kindern kennengelernt hatte. Da war ich dann einer zu viel; so jedenfalls habe ich es in Erinnerung. – Nachdem sie die Erstausgabe dieses Buches gelesen hatte, schrieb sie mir eine „Glückwunschkarte“. Bis dahin wusste ich nicht einmal, ob sie noch lebt. Diese Karte löste in mir eine hilflose Wut aus, weil sie mich im Alter von 11 Jahren dem Mann überließ, von dem sie sich wegen seinen unmenschlichen Gewaltausbrüchen hat scheiden lassen. Das habe ich ihr dann auch in einem Brief geschrieben; ebenso, dass meine Kinder und Enkelkinder sich gefreut hätten, dass es da noch eine Oma und Uroma gibt.
Da hatte ich wohl in ein Wespennest gestochen, denn anstatt mir ihre damalige Entscheidung zu erklären und mir ein versöhnendes Gespräch ohne gegenseitige Vorwürfe anzubieten, kamen bitterböse Briefe zurück. Sie regte sich furchtbar auf, dass ich davon erzählte, wie sie ihren – aus meiner heutigen Sicht völlig verständlichen – Nachholbedarf in puncto soziale Kontakte nach der Ehe mit meinem tyrannischen Vater mit Lebensfreude vor allem bei Tanz- und sonstigen Veranstaltungen stillte.
Die Frauen der damaligen Generationen hatten es leider diesbezüglich noch sehr schwer, den Spagat zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und der verlogenen Doppelmoral der Gesellschaft auszuleben. Obwohl ich als Kind diese Zusammenhänge noch nicht begreifen konnte, war ich damals schon mit dem Aushalten und Verhalten von Erwachsenen beim Karneval und sonstigen Feiern total überfordert. Aus meiner heutigen Sicht hat sich bezüglich der verlogenen Doppelmoral nicht viel geändert. Die Mädchen wachsen heute, ihren durch die Alice Schwarzer-Zeit geprägten Müttern sei Dank, zwar freier und ungezwungener auf, aber wenn sie sich bezüglich der Lust und Lebensfreude die gleichen Freiheiten herausnehmen wie die Jungs, gerät ihr gesellschaftliches Ansehen nicht nur bei den Männern in Schieflage.
Meine Mutter musste mich als Alleinerziehende manchmal mitnehmen, wenn sie für mich keinen Babysitter hatte. Das kam zwar nicht oft vor, aber 3-4 Situationen sind in meinem Gedächtnis wie eingebrannt. Als Kind kann man gar nicht verstehen, wie die Mutter mit solchen, durch Alkoholeinfluss veränderten Menschen Spaß haben kann, die auf jeder Karnevalsfeier und jedem Schützenfest sich so verhalten, dass man als Kind ein riesiges Fragezeichen im Kopf hat.
Sie schrieb mir, dass es meine Entscheidung gewesen sei, zum Vater zurückzukehren, da er mich während meiner Ferien bei ihm mit viel Taschengeld, einem neuen Fahrrad und anderen Annehmlichkeiten geködert hätte.
Da kommt natürlich die Frage auf, wie man einem 11-jährigen Kind so eine Entscheidung überlassen kann? Das Jugendamt entscheidet in diesem Alter, ob eine Mutter das Sorgerecht behält oder verliert. Andererseits erinnere ich mich schemenhaft daran, dass meine Mutter mich zu einer mit mir nicht verwandten Tante geben wollte, die ich ganz gerne mochte. Da hätte ihr doch klar sein müssen, dass mein Vater wie aus heiterem Himmel eine Blitz-Ehe und alle Voraussetzungen aus dem Hut zaubern würde, nur um das Sorgerecht für seinen Jungen zurückzubekommen.
Wie gesagt, viele Erinnerungen erscheinen wie in Nebelschwaden nur schemenhaft: An das Fahrrad kann ich mich erinnern, aber dass ich das von meinem Vater bekommen haben soll, daran erinnere ich mich nicht. Ebenso wenig, dass ich in den Ferien immer bei ihm gewesen sein soll. Und an ihren schmerzhaften Abschied von mir 1963, wie sie ihn heute vorwurfsvoll beteuert, kann ich mich beim besten Willen auch nicht erinnern. Denn das Zeugnis der Böckerhof-Schule in Solingen vom Frühjahr 1964 hat meine Mutter noch unterschrieben!?
Ich weiß nicht mehr, wie und wann ich „Umgezogen worden bin“, es muss aber in den Herbstferien 1964 gewesen sein, und zwar erinnere ich mich deswegen, weil der Zeitpunkt dieser Erinnerung mit einem tiefgreifenden emotionalen Zustand gekoppelt ist. So etwas vergisst man einfach nicht. Da stand ich also ein paar Tage zuvor heimlich auf der Müngstener Brücke in 107 m Höhe..., ich bin nur deshalb nicht gesprungen, weil ich Angst vor ihm hatte, was er mit mir machen würde, wenn ich nicht tot wäre und „nur“ im Krankenhaus lande. Die Angst davor, nicht tot zu sein, hat mir das Leben gerettet.
Auch weiß ich nichts davon, dass sie mir mal 400 DM geschickt hat und ich mich bei ihr mit einem Brief bedankt habe. Obwohl sie mir eine Kopie des Briefes mit meiner Handschrift beigelegt hatte, kann ich mich nicht daran erinnern. Auch ihre Entrüstung, dass ich, bis auf das eine Mal nie geantwortet hätte, findet für mich nur die Erklärung, dass mein Vater und meine Stiefmutter die Post meiner Mutter haben verschwinden lassen.
Wahrscheinlich habe ich mich aufgrund der damaligen seelischen Überforderung als Kind schon in einer Art depressivem Stupor befunden, der bei traumatisierten Kindern mit Depressionen häufig zum Schutz vor weiteren seelischen Verletzungen vorkommen kann. Das würde auch die, wie in Nebelschwaden verschwommenen Erinnerungen, erklären und nicht nur, mit den Worten meiner Mutter, meine „lebhafte Fantasie“ sein.
Aus einem Sammelsurium von solchen erlebten Gefühlen, Begegnungen und Beziehungen aus meinem privaten, wie auch beruflichen Alltag, habe ich in den letzten Jahren versucht, einigermaßen strukturiert und verständlich lesbar dieses Buch zu schreiben.
Dabei ist mir jetzt erst richtig klar geworden, dass alle Konflikte von Alt und Jung, in Partnerschaften, Freundeskreisen und sonstigen Bekanntschaften ihren Ursprung in der Lebensgeschichte jedes Einzelnen haben.
Wir haben alle nicht gelernt, dass man die Wertigkeit der Wahrheit nur begreifen kann, wenn man sich mit ihr im wahrsten Sinne des Wortes auch befasst. Ebenso haben wir alle nicht gelernt, mit der Wahrheit so umzugehen, dass wir sie nicht immer umgehen müssen.
Da wir in gewisser Weise alle Nachkriegskinder sind, geprägt durch die Auswirkungen, die auch unsere Eltern und Urgroßeltern so haben werden lassen wie sie sind, hoffe ich, durch meine Zeilen ein wenig dazu beizutragen, dass wir alle etwas mehr nachdenken, warum wir über viele Dinge nicht reden können, oder wollen. Wir vergeben damit die Chance, etwas zu ändern, was uns stört, etwas zu erreichen, was wir uns wünschen, aber auch die Chance, einfach nur unserem Ärger Luft zu machen, damit er uns nicht die schönen Dinge des Lebens verdirbt, in jeder Beziehung.
Die Erklärung dafür, warum vieles in unserem Leben so ist, wie es ist, finden wir in unserer Familiengeschichte. Nur wenn wir uns mit ihr befassen, indem wir uns mit ihr erst zusammen- und dann auseinandersetzen und vor allen Dingen darüber reden, können wir gedanklich begreifen, was uns so gemacht hat, wie wir sind.
Ehrlichkeit und Fairness
sollten einen höheren Stellenwert
in unserem Leben bekommen,
denn es ist (nur) einmalig und endlich.